Biondina, ti amo

Die blonde Frau die Serafino eine ganze süsse Nacht lang in die Geheimnisse der tantrischen Liebe eingeweiht hatte, war längst entschwunden.

Aber die Flügel, die seiner Seele gewachsen waren, liessen ihn auch nach Sonnenaufgang weiterschweben.  Serafino wunderte sich kaum, als er realisierte, dass er fliegen konnte.  Nach so einer Nacht. Eigentlich war ihm als hätte er die Welt schon immer von oben betrachtet, als er im ruhigen Gleitflug über seiner Stadt schwebt

Nur kurz spielte er mit dem Gedanken, seine ältere Schwester Concetta, die sich gewöhnlich um diese Zeit auf ihrer Terrasse ihren dritten caffe machiato genehmigte, mit einem kühnen Looping  zu erschrecken. Aber dann erschien ihm dieser kleine Scherz als zu banal.
So hielt er schnurgerade Kurs auf sein eigentliches Ziel. Sein tägliches Ziel. Das Ministerium.

“Das Mysterium“, lächelte er, als er vor der Zypressenalle zum Landeanflug ansetzte und sich nach einer kunstvollen Pirouette direkt vor dem prächtigen Hauptportal niederliess.
Niemand hatte ihn beobachtet, stellte er fest. Sehr gut. Seine Kollegen waren also alle schon drin. Das hiess,  dass schon bald die erste Zigarettenpause angesagt war. Luciano,  der Portier, dürfte noch mit der Gazetta dello Sport beschäftigt sein. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Halb neun. Er musste sich beeilen.

Serafino öffnete seine Aktentasche, zog die Spraydose hervor und begann unverzüglich mit der Arbeit. Dann trat zwei Schritte zurück und musterte zufrieden sein Werk.

Eine leidenschaftliche Botschaft, in zügiger Schrift, mit blutroten Hochglanzlack entschlossen, quer über die saubere Betonwand gesetzt, direkt unter dem Bogenfenster des Ministers für innere Angelegenheiten.

Biondina, ti amo. 

Und daneben, auf dem dunklen Eichenholzportal ein grosses, tapferes Herz.

***

Obwohl Ministerialratssekretär Serafino Modesta in zwei Wochen sowieso pensioniert worden wäre, wurde er sofort freigestellt.  Widerspruchslos händigte er dem Interimsabgeordenten den Schlüssel   zu seinem Schreibtisch und die leere Spraydose ab und begab sich nach Hause. Zu Fuss. 

Der materielle Schaden belief sich mit den Schreibgebübühren auf 4038 Euro, was ziemlich genau zwei Monatseinkommen entsprach. Und leider  genau 39 Euro über der Toleranzgrenze für Bagatellfälle lag. Serafino hatte damit ein Offizialdelikt begangen, und der Verzicht auf eine Anzeige hätte, so meinten seine Vorgesetzten bedauernd, nach Verdunkelung ausgesehen

Der bekümmerte Stellvertreter des Ministers für innere Angelegenheiten gab bei der Pressekonferenz bekannt, dass sein dienstältester Sekretär bisher nicht negativ aufgefallen, aber  nervlich dem unmenschlichen Stress im Amt bedauerlicherweise nicht mehr gewachsen sei.  Danach bat er die Journalisten um Diskretion und Geduld.



***

Der Prozess fand zweieinhalb Jahre später statt.
Der Verteidiger versuchte zwar, mildernde Umstände geltend zu machen.
Aber der Gerichtspsychologe beurteilte denTäter als zwar emotional geringfügig schwer zugänglich, jedoch als voll zurechnungsfähig.
Dies erfüllte Serafino Modesta mit einer gewissen Befriedigung. Wenigstens besass er jetzt schwarz auf weiss, was er schon immrt geahnt hatte. Er war nicht verrückt.So akzeptierte  er die Strafe, die definitive Amtsenthebung und die Rückstufung um eine Viertel-Gehaltsklasse widerspruchslos  

Schützend stülpte er sein Jackett über den Kopf und eilte durch das Blitzlichtgewitter hindurch zum Ausgang.. „Kein Kommentar“, rief er immer wieder  Hätten denn irgendwelche Journalisten verstanden, dass in gewissen Momenten nicht das Begreifen , sondern das Ergreifen wichtig war?

Serafino Modesta wollte nur noch eines.
Und die blonde Frau, die vor dem Amtsgericht ungeduldig auf iihren Helden wartete, hatte auch nichts anderes vor als:

Fliegen

 

26.3.2006    Silvia Gillardon  c.r.